Mehr als 100 Jahre später gibt es wieder gemeinsame Landtagssitzungen, eine enge Zusammenarbeit der Regierungen in der Euregio und zahlreiche Projekte, die Verbindungen über Grenzen hinweg stärken. Wie es dazu kam, erzählt Fritz Staudigl, ehemaliger Vorstand der Abteilung Südtirol, Europaregion und Außenbeziehungen, im Interview mit der Tiroler Landeszeitung.
Tiroler Landeszeitung: Italien war lange Zeit nicht an einer Wiederannäherung seiner neuen Provinzen Bozen und Trient mit Tirol interessiert. Wie gelang es dennoch, erste Schritte der Zusammenarbeit zu setzen?
Fritz Staudigl: Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchten sich Tirol und Südtirol zunächst über die wirtschaftliche Ebene anzunähern. Mitte der 1960er-Jahre waren dann anscheinend die richtigen Menschen an den richtigen Schalthebeln. Die Landeshauptleute Eduard Wallnöfer und Silvius Magnago und die Landtagspräsidenten Alois Lugger und Robert von Fioreschy sind das Thema behutsam, aber zugleich hartnäckig angegangen. Für sie war klar, dass die Politik und die Menschen dies- und jenseits des Brenners vor ähnlichen wirtschaftlichen, naturräumlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen stehen – und dass man diesen gemeinsam besser begegnen kann. Im Vordergrund stand damals noch der informelle politische Austausch. Den nutzten sie zur Beseitigung von Grenzhindernissen, auch in den Köpfen der Menschen.1970 trafen sich die Landtagsabgeordneten Tirols und Südtirols dann zu einer ersten gemeinsamen Sitzung. Welche Rolle spielte das in der Annäherung der Regionen?
Also das erste Treffen der Landtage von Tirol und Südtirol war damals sicherlich eine Sensation. Und es war Ausgangspunkt für eine breiter angelegte zukunftsgerichtete Zusammenarbeit, auch im gesamten Alpenraum. So wurde auf Initiative von Tirol und Südtirol zwei Jahre später die Arbeitsgemeinschaft Alpenländer (ARGE ALP) mit acht weiteren Alpenregionen gegründet, darunter auch das Trentino. Somit gab es dann eine Organisation, in der die drei ehemaligen Landesteile eng zusammenarbeiten konnten. Für das Europa der Regionen war das eine wichtige Zeit, man sprach von einer „Revolution der Provinzen“. Grenzüberschreitende Beziehungen der Länder und Regionen wurden zu einer wichtigen Ergänzung der staatlichen Außenpolitik.Wie entwickelte sich aus diesen Anfängen schließlich die Idee einer Europaregion?
Die politische Initialzündung für eine Europaregion haben Abgeordnete aus Tirol, Südtirol und Trentino bei einer gemeinsamen Landtagssitzung im Jahr 1993 beschlossen. Per Antrag haben sie die Landesregierungen aufgefordert, in den Bereichen Wissenschaft, Forschung, Schule, Kultur, Sport und Information enger zusammenzuarbeiten. Das hat zu einer Verdichtung und Ausweitung der Kooperation auf zahlreiche Politikbereiche geführt, die Euregio war gegründet. Mit dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union 1995 bekam die Europaregion schließlich eine weitere wichtige Aufgabe, nämlich die Vertretung der gemeinsamen Interessen der drei Länder in der EU. Für diese Lobbyingaktivitäten wurde dann ein gemeinsames Büro in Brüssel eingerichtet. Damit war Tirol-Südtirol-Trentino europaweit die erste gemeinsame regionale grenzüberschreitende Struktur mit eigener Vertretung.Mit der Schaffung eines Europäischen Verbunds für territoriale Zusammenarbeit (EVTZ) bekam die Euregio 2011 auch einen rechtlichen Rahmen. Basis dafür war wieder ein Beschluss des Dreier-Landtags. Welche Unterschiede und neuen Möglichkeiten ergaben sich daraus im Vergleich zu früheren Formen der Zusammenarbeit?
Zunächst: Es war wichtig, dass die drei Länder mit der Gründung der Europaregion nicht auf die Schaffung eines passenden rechtlichen Vehikels gewartet haben. Denn in der Zwischenzeit konnten sie schon viele Schranken abbauen und gemeinsame Projekte initiieren. Mit dem Rechtsinstrument des EVTZ haben sie dann aber ein wichtiges Werkzeug für die Weiterentwicklung in die Hand bekommen. Die Europaregion wurde zur eigenständigen Rechtsperson, die Stabilität unabhängig von parteipolitischen Entwicklungen und tagespolitischen Ereignissen garantiert und eine erhebliche Erweiterung und Vertiefung der grenzübergreifenden Zusammenarbeit ermöglicht. Sie hat jetzt eine eigene Organisationsstruktur, ein Budget und auch Personal und kann selbst Verträge abschließen. Das macht die Europaregion handlungsfähiger und flexibler.Zur Person
Fritz Staudigl ist promovierter Jurist und war zunächst für die ARGE ALP tätig. 1994 übernahm er zusätzlich die Leitung der Abteilung Südtirol, Europaregion und Außenbeziehungen des Landes Tirol, die er bis zu seiner Pensionierung 2023 innehatte. In diesen Funktionen begleitete er die Entwicklung der Europaregion über 30 Jahre lang.Kommentar
Über Jahrzehnte hinweg war der Brenner eine trennende Grenze zwischen historisch eng verbundenen Landesteilen. Was Krieg und Machtgier vor mehr als 100 Jahren zerrissen hatten, wurde erst Schritt für Schritt wieder zusammengeführt. Vertrauen musste wachsen, alte Ressentiments abgebaut werden. Doch die Mühe hat sich gelohnt: Drei Länder, zwei Staaten, eine gemeinsame Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino – grenzüberschreitende Kooperation, Tag für Tag. Das ist zentral für eine lebenswerte Zukunft in Sicherheit und Wohlstand. Mit Zusammenarbeit auf allen Ebenen: zwischen den Landtagen, den Regierungen und den Kommunen. Und stets unter aktiver Beteiligung der Bevölkerung, die das Fundament unserer Europaregion bildet.Sonja Ledl-Rossmann, Landtagspräsidentin